Das Abendessen (1)
Sie lernten sich im Joy kennen. Er machte ihr Komplimente für ihre Bilder, sie bedankte sich, und daraus entwickelte sich ein längerer Mailverkehr.Er machte aus seiner Verehrung keinen Hehl, und sie beantwortete seine Mails freundlich, ließ aber keinen Zweifel daran, dass sie nur an Kontakten auf rein freundschaftlicher Ebene interessiert ist. Er wollte sich trotzdem mit ihr treffen.
Ihr erstes Date fand an einem Sonntagnachmittag in einem Café statt. Sie hatte sich nicht extra aufgebrezelt, sondern war in dem Outfit erschienen, in dem sie sich wohlfühlt, nämlich in einer schwarzen Hose, einer weißen Bluse, einer leichten schwarzen Wolljacke und Stiefeln mit einem 4-cm-Absatz. Geschminkt hatte sie sich nur mäßig. Ihre Frisur sah aus, als hätte sie in eine Steckdose gelangt, denn draußen war es feucht, da kringelte sich ihre Naturwelle und die Haare standen wild vom Kopf ab.
Sie war zuerst da, was für sie äußerst ungewöhnlich ist, da sie sich meistens verspätet. Sie wählte einen Tisch, der etwas abseits zwischen großen Pflanzenkübeln stand und bestellte schon einen Latte macchiato für sich, während sie die anderen Besucher des Cafés beobachtete. Darin war sie so vertieft, dass sie seine Ankunft gar nicht bemerkte, bis er vor ihrem Tisch stand und sie begrüßte.
Das erste, was ihr an ihm auffiel, war sein hinreißendes Lächeln und seine wundervollen warmen braunen Augen. Er setzte sich zu ihr und orderte für sich einen Cappucino und ein Stück Torte. Sie betrachtete seine Figur und überlegte unwillkürlich, ob das eine gute Entscheidung war. Er ist zwar nicht dick, aber für sein Gewicht eindeutig ein wenig zu klein. Sie selbst ist zwar keineswegs schlank, hat aber eine Vorliebe für große, gut proportionierte Männer. Er ist gerade mal so groß wie sie mit ihren Absätzen. Aber egal, sie trifft sich ja mit ihm lediglich, um sich gut zu unterhalten und einmal ein wenig Tapetenwechsel zu haben.
Nach einer kleinen Runde Small-Talk entwickelte sich ihre Konversation schnell. Sie redeten über Gott und die Welt, angefangen von Politik und Sport über Musik, Tanz und Theater bis hin zu Natur und Umwelt, Psychologie und Philosophie. Er hatte zu all diesen Themen eine fundierte Meinung und sie merkte, dass die Wellenlänge passte. Sie stimmten in vielen Punkten überein, und da, wo sie anderer Meinung waren, wurde Argumente ausgetauscht, ohne aber den anderen missionieren zu wollen. Sie merkte, dass sie begann, sich in seiner Gegenwart wohl zu fühlen. Als sie sich verabschiedeten, war klar, dass sie sich wieder treffen würden.
Diesem Treffen folgten viele weitere. Manchmal begleitete er sie, wenn sie mit ihrem Hund spazieren ging, an anderen Tagen trafen sie sich zum Essen oder zum Chillen in einer Bar, sie besuchten zusammen eine Gartenausstellung und den Weihnachtsmarkt, gingen zusammen ins Kino und diskutierten über die Filme, die sie gesehen hatten. Im Laufe der Zeit hat sie sich an ihn gewöhnt und er gehört irgendwie zu ihrem Leben. Sie hat es sehr wohlwollend aufgenommen, dass er sie nie auf sexuelle Themen angesprochen hat und Ihre Einstellung respektiert.
Da er sie nie danach gefragt hat, musste sie ihn auch nicht anlügen. Sie ist keineswegs asexuell, wie er anzunehmen scheint, aber sie ist schon eine ganze Zeit auf einen anderen Mann fixiert, der es als einziger versteht, ihre Libido zu wecken, mit dem sie aber aus unerklärlichen Gründen nicht zusammen kommt. Da andere Männer auf sie keinen Reiz ausüben, erspart sie sich Begegnungen, die ihrer Erfahrung nach nur einen schalen Beigeschmack hinterlassen. Er jedenfalls ist kein denkbarer Partner für sie, dafür ist er zu lieb und ihr zu ergeben. Sie hat andere Präferenzen.
Heute ist ein trüber, regnerischer Tag, und sie hat eigentlich gar keine Lust, aus dem Haus zu gehen. Als er anruft und ihr offeriert, dass er für sie kochen möchte, ist sie versucht, abzulehnen, aber mit der Beschreibung des geplanten Mahls kann er sie überzeugen. Sie soll auch ihren Hund mitbringen.
Als sie sich fertig macht, denkt sie, dass ein solches Abendessen auch einmal ein außergewöhnliches Outfit rechtfertigt. Völlig entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit beschließt sie, ein Kleid zu tragen, das sie vor kurzem erst gekauft hat. Es ist ein langärmeliges schwarzes Wollkleid mit einem herzförmigen Ausschnitt, dessen Stoff an der Oberseite aufgeraut ist, so dass es sich ganz weich und flauschig anfühlt. Dazu wählt sie einen breiten Lackgürtel, schwarze, blickdichte Strumpfhosen und Lackstiefeletten mit einem kleinen Absatz. Dazu legt sie noch die Kette mit dem ovalen Anhänger aus Goldobsidian um, die sie so gerne trägt.
Sie wirft noch einen Mantel über, packt ihren Hund ins Auto und fährt die 20 Minuten zu seinem Haus. Sie war schon öfter bei ihm, das waren aber immer Gelegenheiten, bei denen noch einige seiner anderen Freunde anwesend waren. Alleine war sie hier noch nie mit ihm.
Sie parkt ihr Auto in der Auffahrt und geht den kurzen, mit Platten belegten Weg durch den Garten zur Eingangstür des Hauses. Da er ihr Auto gehört hat, öffnet er die Tür und steht wartend da, umrahmt vom hellen Lichtschein aus dem Eingangsbereich. Er ruft ihr zu „Vorsicht! Da ist ein Loch!“. Die Warnung kommt um Sekundenbruchteile zu spät. Sie verliert das Gleichgewicht, als sie unerwartet mit dem rechten Fuß in eine mit kaltem Wasser gefüllte Mulde tritt, und kann sich gerade noch mit Händen und Knien abfangen, bevor sie platt auf dem Boden liegt.
Erschrocken eilt er auf sie zu und hilft ihr auf. Er will wissen, ob sie sich verletzt hat, aber sie ist so überrascht über den Vorfall, dass ihr erst einmal die Worte fehlen. Er führt sie ins Haus und sie begutachten den Schaden. Ihre Stiefelette ist mit Wasser gefüllt, die Strumpfhose ist zerrissen und ihre Handballen sind aufgeschürft. Ansonsten fühlt sie sich bis auf den Schock einigermaßen heil.
Er begleitet sie ins Bad, zieht ihr die Stiefeletten aus und bittet sie, die Strumpfhose ebenfalls auszuziehen. Er trocknet ihren nassen Fuß sorgsam mit einem flauschigen Handtuch ab und versorgt die Handballen mit einer Heil- und Wundsalbe. Dann gibt er ihr aus einer Schublade ein Paar seiner Socken, damit ihre Füße nicht kalt werden. Die Socken sind ihr natürlich viel zu groß und sie schaut ungläubig an sich hinab. Dann schaut sie ihm in die Augen, und in dem Moment brechen sie beide in schallendes Gelächter aus.