Fabula Erotica
Längst war der kurze Tag zur Neige gegangen, der geschäftige Lärm friedlicher Stille gewichen. Die Zofen und Knechte lagen in ihren Kammern in den Gesindehäusern, erfreuten sich an den Geschenken, die sie zum Fest im großen Saal der Burg in Empfang genommen hatten, oder aneinander.
Die Baroness stand am hohen Fenster ihres Gemaches und blickte über die schneebedeckte Landschaft, die sich in sanften Wellen unter ihr ausbreitete. Das Flackern des Kaminfeuers narrte die Augen Unwissender mit flüchtigen Gestalten an den seidenbespannten Wänden. Die Bewohnerin jedoch wusste die Zeichen anders zu deuten. Schon den ganzen Tag lang verspürte sie das Rufen aus der anderen Sphäre, das mit jeder Stunde stärker wurde. Mit ungeduldigem Lächeln hatte sie das Fest über sich ergehen lassen, jeden Glockenschlag insgeheim begrüßt und die letzte Stunde regungslos an eben diesem Fenster gewartet, bis endgültig Ruhe eingekehrt war.
Sie löste sich vom Ausblick auf die gemeine Welt. Ihre Gedanken hatten sich längst mit denen verbunden, die sie lockten. Immer wieder war sie in den vergangenen Wochen im sicheren Wissen erwacht, dass ihre Träume keine zusammenhanglosen Hirngespinste waren. Zu eindeutig waren die verräterischen Zeichen ihres Körpers, zu real die unerfüllte Lust die nachklang und sich nicht durch die üblichen Mittel besänftigen ließ.
Sie nahm den pelzbesetzten bodenlangen Umhang und legte die Kapuze über die charakteristischen roten Locken. Mit jedem Schritt, den sie jetzt ging, entfernte sie sich weiter aus ihrer Realität und trat ein in ein mystisches Reich. Gespannte, vertrauensvolle Vorfreude ließ ihr Herz schneller schlagen. Leichten Schrittes verließ sie ihr Gemach und stieg die alten Marmorstufen hinab in den Hof. Sie führte den Apfelschimmel am Halfter aus dem Stall, schwang sich auf dessen Rücken und verließ ungesehen ihr Anwesen.
Eine innere Stimme geleitete sie durch die kalte Nacht. Der Mond lugte ab und zu hinter kleineren Wolken hervor, verwandelte den verschneiten Pfad in ein leuchtendes Band, das ihr den Weg bis zum dichter werdenden Wald wies. Als das Unterholz für Ross und Reiterin undurchdringlich wurde, stieg sie ab, band das Tier an einem Baum fest und lief zu Fuß weiter. Magisch teilten sich Äste und Zweige vor ihr, um sich wenige Schritte nach ihr wieder zu schließen. Sie hatte jedes Zeitgefühl verloren, bemerkte aber, dass sich die Umgebung veränderte.
Zuerst hörte sie Vogelstimmen, dann verschwand der Schnee ringsum und sie wanderte statt durch weiße Pulverkristalle über weiches Moos auf eine kleine Anhöhe zu. Das Dickicht wich einem Buchenwald, Sonnenstrahlen brachen durch das grüne Blätterdach, die Winterkälte verschwand, es roch nach Harz und Pilzen.
Auf dem kleinen Hügel angekommen erblickte sie eine Lichtung, in deren Mitte eine klare Quelle aus sandigem Boden entsprang. Ringsherum wiegten Orchideen, Fingerhut und Schlüsselblumen ihre bunten Köpfe im leichten Wind, Schmetterlinge tanzten in der Sonne und manchmal blitzte das metallische Blau einer Libelle auf.
Die Baroness fragte nicht, wie das alles möglich sein konnte. Sie nahm es als Geschenk des Schicksals an, erfreute sich an den Eindrücken, die auf alle ihre Sinne zielten und ergab sich der Stimmung, die sie auslösten. Glücklich und gelöst fühlte sie sich und gleichzeitig spürte sie gespannte Erwartung, ein unerklärbares Kribbeln, das nicht nur ihren Körper befallen hatte.
Langsam ging sie auf die Quelle zu, streifte dabei den nun überflüssigen Umhang ab und lies ihn ins Gras neben sich gleiten. Sie sank auf die Knie, um mit ihren Händen aus der Quelle zu schöpfen und trank genussvoll das kalte Wasser.
Nur wenige Meter entfernt, doch verborgen für ihre Blicke, stand ER und beobachtete sie. Noch immer konnte er es kaum glauben. Sie war ihm in seinen einsamen Träumen begegnet, hatte die uralte Sehnsucht nach dem ungewöhnlichen Wesen an seiner Seite wieder erwachen lassen und ihn aus seinem selbstgewählten, dunklen Versteck gelockt. Zu oft war er schon enttäuscht worden, um ohne Umschweife alle Bedenken beiseite wischen zu können. Tief saß der alte Schmerz unerfüllter Hoffnung. Doch war etwas an ihr, das ihn an die Möglichkeit von Licht und Wärme glauben ließ.
Anmutig saß sie im Grünen, die milchweiße Haut umrahmt von rubinroter Seide. Ihr üppiger Busen wogte unter dem Gewand und zog ihn magisch an. Er wollte sie berühren, sein Gesicht in ihren schimmernden Locken vergraben, sie riechen, schmecken und erleben, wie sie unter seinen Händen das Paradies erblickte.
Kurz überlegte er, verwandelte sich und trat auf leisen Pfoten auf die Lichtung.