Sirenenruf
Er steht oben auf der Klippe und sieht hinunter aufs Meer. Neun Jahre ist es her, dass er zuletzt hier war.
Damals, im Sommer nach dem Abitur, hatte er mit einigen Freunden einige wunderbar freie, unbeschwerte Wochen in diesem Touristenort an der Küste verbracht.
Es war in der letzten Woche, als einige aus der Gruppe darauf verfielen, von der Klippe ins Meer zu springen. Am Fuß der Klippe hatte sich ein tiefer Pool gebildet, der dieses Vergnügen relativ gefahrlos möglich machte. Während die anderen immer wieder vom Strand zur Klippe hochliefen, um jauchzend in die Tiefe zu springen, blieb er auf seinem Handtuch liegen. So war es immer gewesen: er war der Vorsichtige, Ruhige, Vernünftige, galt unter seinen Freunden als etwas phlegmatisch und als Mitläufer; seine Familie freute sich über dieses Verhalten, für sie galt seine Vorhersehbarkeit als zuverlässig.
An diesem einen Abend, sie waren schon vom Strand zurück in den Ort gegangen, ließen ihm die freundschaftlichen Spötteleien seiner Freunde keine Ruhe. Und wenn er auch, nur dieses eine Mal in seinem Leben, etwas Aufregendes, Gefährliches tun würde?
Alleine ging er zurück zum Strand, es war nicht mehr weit bis zur Dämmerung. Alleine stand er oben an der Klippe, sah lange hinunter in das Wasser, das sehr tief und dunkel wirkte. Es war Wind aufgekommen, und das Wasser war unruhig, warf Schaumkronen und schlug gegen den Fuß der Klippe. Lange stand er dort oben, zögerte, doch dann lief er einfach los, über den Rand der Klippe hinaus, und stürzte in die Tiefe.
Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er aufs Wasser aufschlug und darin versank. Während er kräftig mit den Beinen trat, um zurück zur Wasseroberfläche zu gelangen, bemerkte er, dass das Meer unruhiger war als er erwartet hatte. Das Wasser zog an ihm, warf ihn herum, schien von ihm Besitz ergreifen zu wollen.
Er erreichte die Wasseroberfläche und merkte, dass er viel näher an der Klippe war als erwartet. Er schien auf die Wand zuzutreiben und beeilte sich, kräftig in Richtung Strand zu schwimmen. Doch das Wasser zog ihn immer wieder zurück, immer näher an die Klippen heran. Er dachte daran, dass es unter der Oberfläche vielleicht ruhiger wäre, einfacher zu schwimmen. Also holte er tief Luft und tauchte wieder unter, schwamm mit Kräftigen Bewegungen in die Richtung, in die er sich vorher orientiert hatte. Es funktionierte, er kam gut vorwärts, tauchte alle paar Meter auf, um sich neu zu orientieren, und sank dann wieder unter die Oberfläche.
Als er sich schon dem Strand näherte, traf ihn beim Auftauchen eine Welle, drückte ihn wieder nach unten und trieb ihn aufs Meer hinaus. Die Welle hatte ihn unvorbereitet getroffen, er hatte Salzwasser geschluckt und die Orientierung verloren. Er geriet in Panik, schlug um sich, wollte verzweifelt nur noch an die Oberfläche gelangen. Da berührte etwas sein Gesicht.
Er konnte immer noch nichts anderes sehen als das wirbelnde Wasser um sich herum, trotzdem wird er ruhiger. Er kann das Wasser nicht mehr schlagen hören, alles scheint zu versinken. Einen kurzen Moment fragt er sich, ob es sich so anfühlt wenn man stirbt, aber auch dieser Gedanke vergeht wieder. Dann ist da nur noch Stille, Ruhe, und wie in weiter Ferne ein perlendes Lachen.
Als er wieder zu sich kam, lag er am Strand. Es war dunkel geworden, er war immer noch durchnäasst und fror. Benommen setzte er sich auf, und sei erster Blick viel aufs Meer, das jetzt wieder ganz ruhig dalag. Über eines seiner Schiembeine zog sich ein langer Riss, wo sich sein Blut mit dem Salzwasser auf seiner Haut mischte.
Er hatte den Strand in diesem Urlaub nicht wieder betreten, war kaum in Sichtweite des Meeres gekommen. Während seine Freunde die letzten Tage am Strand genossen, hatte er in der Wohnung gesessen oder war ziellos durch die Straßen des klelinen Ortes gelaufen.
Dann fuhren sie zurück nach Hause, in den kleinen Ort, umgeben von Feldern und Wäldern, weit weg vom Meer. Er absolvierte seine Ausbildung, stieg in den elterlichen Hof ein, absolvierte ein Fernstudium. Heiratete ein Mädchen aus demselben Dorf, sie bekamen schnell zwei Kinder. Er mochte seine Arbeit, den Hof, das Zusammenleben mit seinen Eltern, seine Frau, die sich so wunderbar in seine Welt integriert hatte. Sein Blick glitt über die Felder, nur selten zum Horizont, der vom Wald begrenzt wurde. Er war dort, wo er sein sollte und von wo er nicht weggewollt hatte.
Jahrelang war alles gut, doch vor einigen Monaten begannen die Träume. Er träumte vom Wasser, von Dunkelheit und Ruhe. Und von Händen, die nach ihm griffen. Die über seine Haut strichen, ihn liebkosten, ihn in ihre Arme zogen. Haare, vom Wasser in sein Gesicht getrieben... sanfte Küsse, die leidenschaftlicher wurden... Körper, die sich an ihn schmiegten, kalt und warm zugleich...
Wenn er aufwachte, konnte er manchmal Salz auf seiner Haut riechen. Er wurde unruhig, fand keine Befriedigung mehr - nicht in seiner Arbeit, nicht in den Armen seiner Frau.
Und jetzt war er also hier. Stand oben auf der Klippe und schaute aufs Meer hinaus. Es war Spätherbst, die Saison war fast vorbei, und zum Baden war es deutlich zu kalt. Lange stand er dort, bevor er sich langsam auf den Weg hinunter zum Strand machte. Dort zog er die dicke Jacke aus, dann die Stiefel. Er zögerte kurz, sah sich um, doch er war alleine am Stand. Schnell entledigte er sich auch des Rests seiner Kleidung. Er zitterte im kalten Wind, während er aufs Wasser zuging.
Die Kälte des Wassers fraß sich in seine Haut, schmerzte und betäubte sie zugleich. Er ließ sich nicht beirren, sondern watete weiter hinein, folgte dem Ruf tief in seinem Inneren - einem Ruf, der damals mit dem Salzwasser in sein Blut gedrungen war. Das Wasser reichte ihm über die Knie, bis zur Taille, zur Brust. Er stieß sich ab und begann zu schwimmen, weiter hinaus. Nach einiger Zeit erlahmten seine Bewegungen von der Kälte, und er ließ sich unter die Oberfläche sinken.
Einen kurzen Moment sah er nur Schwärze, doch dann waren sie da: schlanke, ätherische Wesen, durchscheinend wie das Wasser um sie herum und doch wirklich. Sie schlossen ihn in ihre Arme. Ein Mund traf den seinen zum Kuss. Körper schmiegten sich an ihn, lange Haare umschmeichelten ihn, Finger strichen über seine Haut. Er verschwendete keinen Gedanken mehr an Zuhause, oder an die Tatsache, dass Menschen atmen müssen. Er war am Ziel einer so lang gehegten Sehnsucht. Er griff seinerseits nach ihnen, strich mit Fingern über glatte Haut, erkundete schlanke Formen. Wieviel Lust sie ihm schenkten! Er war angekommen.
Spaziergänger fanden seine Leiche am nächsten Tag am Strand, wo sie angespült worden war. Bei der Obduktion wurde kein Wasser in den Lungen gefunden; man schloss darauf, dass er wohl erfroren sei, und rätselte, warum er so spät im Jahr ins Wasser gegangen war. Bei der Beerdigung blieb der Sarg geschlossen - das selige Lächeln auf seinem Gesicht war zu verstörend für die trauernden Angehörigen.