16. Dezember Das Freudenmädchen
Dunkel war es in der breiten Fußgängerzone in der Stadt. Pünktlich hatten die Verkäufer ihre Läden geschlossen und waren mit gesenkten Köpfen nach Hause geeilt. Auch die Mitarbeiter in dem menschenleeren großen Kaufhaus hatten sich beeilt, die Lichter zu löschen und die Türen hinter sich zu verschließen. War es eh schon die vergangenen Wochen fast gespenstisch ruhig gewesen, so war es an jenem 24. Dezember regelrecht unheimlich.
Wie jeden Nachmittag hatte der achtjährige Butch das Waisenheim verlassen, in dem er nach dem gewaltsamen Tod seiner Eltern lebte und sich auf seine Runde durch die Stadt begeben, immer in der Hoffnung, dem alten Franjo zu begegnen, der sonst , Jahr für Jahr, am selben Ort in der Fußgängerzone, frische, heiße Maronen verkaufte.
Doch dieses Jahr war alles anders. Ganz und gar anders als sonst.
Obwohl Mitte Dezember, wo normalerweise das Leben pulsierte, kam der Junge sich vor wie in einer Gruft. Was eine Gruft ist, hatte er vorgelesen bekommen. Gesehen hatte er noch nie eine, doch das Gefühl, wie es wohl in einer Gruft sein mag, das hatte er beschrieben bekommen. Unheimlich war es in einer Gruft, und kalt und dunkel. Dass es im Dezember so dermaßen dunkel sein konnte, das hatte Butch überhaupt noch nicht gewusst.
Sonst war doch IMMER alles ganz anders im Dezember. Hell erleuchtet all die Straßen, Menschen schoben und drängten sich durch die Gassen, Weihnachtsbeleuchtung, sogar bunte Lichter überall, Männer und Frauen mit Nikolausmützen auf den Köpfen.
Kleine Glühweinstände, an denen es im Vorbeigehen süßlich und nach Zimt und Nelken roch. Aus allen möglichen Geschäften und Außenlautsprechern drang die immer gleiche Weihnachtsmusik und die Bratwurststände und Reibekuchenpfannen ließen ihre verlockenden Düfte durch die Stadt wehen. Dazu gehörte auch der alte Franjo, der war auch immer da, und jedes Mal wenn Butch auf einen kleinen Besuch vorbei kam, streichelte der Alte ihm über den Kopf und schenkte dem Jungen eine Marone. Und jedes Mal sagte der Alte:
„Pass gut auf, mien Jung, is heiß!“ und der Junge antwortete, ebenfalls jedes Mal:
„Danke, Onkel Franjo“ und strahlte ihn mit glücklichen Augen lächelnd an.
„Is schon gut, Butje, haste dir verdient.“
Doch dieses Jahr war alles sogar so viel anders, dass selbst Onkel Franjo nicht an seinem Platz stand. Oh wie sehr der Junge all dies vermisste, was für ihn einfach zum Leben mit dazu gehörte und dieses Jahr war er noch ein wenig trauriger, als sonst immer. Einsam und verlassen fühlte er sich, allein auf dieser Welt. Den Blick nach unten auf seine durchgelaufenen Schuhe gerichtet, trottete er die Straße entlang und hätte es fast nicht bemerkt, doch so wie immer hob er kurz hinter Kaufhaus Jansen den Kopf und blickte hin zum alten Carolusbrunnen. Etwas Seltsames lag in der Luft. Ein Duft, ein ihm sehr vertrauter, gut bekannter Duft, und er riss die Augen auf. Wo? Wo nur? Und dann:
„Onkel Franjo!“
Er rannte los. Fast hätte er den Alten in der Dunkelheit nicht erkannt, denn auch die Straßenlaternen spendeten nur diffuses Licht und der alte Mann stand an einem anderen Platz, nicht am Rande des Kopfsteinpflasters in der Fußgängerstraße, sondern weiter hinten, ganz am Ende, mitten auf dem kleinen alten Marktplatz, an dem sich rings herum Wohnhäuser reihten. Vor ihm der alte Ofen mit der großen schwarzen Metallschüssel. Dahinter, so wie immer, der Sack mit den Maronen.
„Onkel Franjo!“, wiederholte der Junge mit dampfendem Atem, „da bist du ja!“
„Na, mien Jung? Ich fürchte, wir machen ein schlechtes Geschäft heute.“
„Ja“, antwortete der Junge traurig, „alles ist so doof dies Jahr. Wo warst du denn?“
„Weihnachten fällt aus dies Jahr, und damit auch Franjos heiße Maronen“, antwortete der Alte ebenso traurig.
„Und heute? Heute ist doch Heilig Abend. Da bist du doch sonst immer schon mittags weg.“
„Eben“, antworte Franjo, „dieses Jahr ist alles anders. Aber ich wusste, dass du kommen würdest. Deinetwegen bin ich hier, du bist doch mien Jung, Butje. Willst ne Marone?“
Der Alte rührte gedankenverloren mit dem breiten Holzlöffel in der Schüssel.
Gar köstlich duftete es und Butch war es so wie immer, so wie früher.
„Hier, “ sagte der Mann, „aber pass auf, is heiß.“
„Danke, Onkel Franjo“, antwortete der Junge strahlend, und dieses Mal grinste er glücklich bis über beide Ohren.
„Haste dir verdient, Butje, ich konnt doch mien Lütten nich bis nächstes Jahr warten lassen.“
„Das ist die beste und leckerste Marone aller Zeiten!“, schwärmte Butch und pustete auf die heiße Frucht.
Nach einer Weile des Schweigens, in der der Alte die Maronen rührte und hin und wieder mit dem Kopf der Qualmwolke aus dem Ofenrohr auswich und der Junge andächtig seine Marone schälte und verspeiste, sagte Butch:
„Du hast diesmal aber nur wenig Maronen in der Schüssel, Onkel Franjo.“
„Ja, ich habs mir irgendwie schon gedacht, dass es heute kein gutes Geschäft wird.“
„Aber wieso denn der große Sack? Der ist so prall gefüllt wie sonst nie.“
„Sind ja auch keine Maronen drin, sondern trockenes Holz.“
„Holz? Wieso?“ fragte der Knirps interessiert.
„Och, nur so“, antwortete Franjo ausweichend, „aber guck mal, da vorne, da kommt noch jemand.“
Tatsächlich! Eine Frau kam die halbdunkle Straße entlang. Die beiden Maronenverkäufer wunderten sich gleichermaßen, denn das Klackern ihrer Absätze war auf dem Pflaster zu hören. Sie trug rote Stiefel. Und dazu einen weißen Pelzmantel mit passender weißer Pelzmütze. Sie kam direkt auf sie zu.
„Ist es gestattet, Ihnen ein wenig Gesellschaft zu leisten, in dieser so stillen Nacht?“
„Klar!“, rief Butch, „möchten Sie Maronen kaufen? Sind ganz frisch und super heiß. Müssen vorsichtig sein, sonst verbrennen Sie sich.“
„Ja, gern“, lachte die Frau, „sehr gern, etwas Heißes ist genau das Richtige jetzt für mich.“
Als sie ihr Portemonnaie zücken will, um zu bezahlen, winkte Franjo ab und sagte:
„Lassen se mal stecken, junge Frau, ich möchte Ihnen gerne eine Freude machen und Ihnen die Maronen schenken.“
„Ehrlich?“ rief der Junge entgeistert, „aber Onkel Franjo, so wird nie ein guter Geschäftsmann aus Dir!“
Die Erwachsenen lachten auf ob der Altklugheit des Jungen.
„Ich heiße Olga“, stellte die Frau sich vor, „und ich freue mich über das schöne Geschenk. Herzlichen Dank. Und ihr dürft du zu mir sagen, wenn ihr mir auch eure Namen nennt.“
„Klar“, rief der Junge, „das ist Onkel Franjo und ich bin Butch.“
„Butch? Das ist aber ein lustiger Name“, sagte Olga, und Butch, der das wohl auch so fand, antwortete sofort: „Naja, eigentlich heiße ich ja Burckhard, aber alle nennen mich Butch. Ich selbst finde das auch viel cooler.“
„Für mich ist er der Butje“, ergänzte Franjo.
Butch sah sich die fremde Frau genauer an. Ihre rot geschminkten Lippen und die grün bemalten Augenlider gefielen ihm, ebenso, wie das rotbraune Haar sanft über ihre Schultern auf den weißen Pelzmantel fiel.
„Du siehst aber elegant aus, Olga“, staunte Butch, „hast du viel Geld?“
„Butch!“, rief Franjo, „sowas…“
„Ach lass nur, Franjo, heute ist die Nacht der Herzen und wir dürfen uns alles ragen. Was meint ihr, hm?“
„Hey, coole Idee“, rief Butch auch sofort begeistert, er liebte solche Frage- und Antwortspiele. „Ich fang an, ja? Was arbeitetest du, Olga?“
Ein Lächeln zog über ihre Lippen und die Augen verengten sich ein wenig. Keck sah sie irgendwie aus. Sie schwieg ein Weilchen, dann antwortete sie.
„Ich bin ein Freudenmädchen.“
„Du bist… was?“, rief Butch und Franjo ließ den Holzlöffel in die Schüssel fallen.
Butch war begeistert, Franjo eher ein wenig… unschlüssig. Er sagte aber nichts, sondern blickte Olga schweigend an.
„Was ist ein Freudenmädchen?“, fragte Butch.
„Ein Freudenmädchen ist ein Mädchen, das Freude schenkt“, antwortete Olga lächelnd.
„Das ist ja toll“, rief Butch, „kann man damit Geld verdienen?“
„Ja klar, denn Freude kann doch wohl jeder gut gebrauchen, oder?“
Franjo wurde es ein wenig ungemütlich, in welche Richtung sich das Frage- und Antwortspiel entwickelte und räusperte sich vernehmlich. Doch Olga ließ sich nicht beirren.
„Schau, ganz viele Menschen sind traurig und wer traurig ist, kann Freude gut gebrauchen. Findest du nicht auch?“
„Ja, das kann ich auch gut gebrauchen, ich bin auch oft traurig und allein.“
„Siehste.“
„Kannst du mir ein bisschen Freude schenken, Olga?“
„Klar, Butch kann ich. Sieh her. Ich schenke dir eine von meinen Maronen. Und wenn du sie gleich isst, dann denkst du einfach, das ist die schönste und leckerste Marone, die es gibt, denn es ist eine Marone von Olga, dem Freudenmädchen. Es ist die leckerste Marone, die du je gegessen hast.“
„Die habe ich zwar vorhin erst von Onkel Franjo bekommen, aber deine Maronen sind bestimmt auch sehr lecker, Olga“, sagte Butch.
„Ja, Olgas Maronen sind die Besten“, lachte die Frau und hielt Butch die Tüte hin. „Und nun, mein lieber Butch, während du vorsichtig die Marone schälst, siehst du mich an, sieh mir in die Augen, Butch. Aber pass gut auf, mien Jung, is heiss.“
„Danke, On…. Olga“, stammelte Butch, woher kannte sie diesen einen Satz, den er doch sonst nur mit Onkel Franjo wechselte? Olga sah wirklich wunder, wunderschön aus, dachte Butch und versank förmlich in ihren tiefblauen Augen. Wie schön sie ist, dachte er, fast so schön, wie…wie… Und er spürte eine große Freude in sich aufsteigen. Obwohl es ziemlich kalt war an der frischen Luft, wurde ihm plötzlich von innen ganz warm, ganz wohlig. Ein Zauber erfasste den Jungen und verwebte ihn mit der Frau. Gebannt sah er ihr in die Augen, sah auch ihr Lächeln, von überirdischer Schönheit geprägt.
„Freude sei mit dir, lieber Butch“, flüsterte sie ihm kaum hörbar zu, beugte sich weit zu ihm herunter und gab ihm einen zarten Kuss auf die Stirn. Sie wiederholte die Worte: „Lieber Butch.“
Franjo hatte zugesehen und mit jeder Sekunde, die verstrich, spürte er, wie sich auch sein Herz plötzlich erwärmte, merkte, wie sein Atem sich veränderte, wie auch er von Olgas Schönheit, ihrem Antlitz, ergriffen wurde. Sie sah einfach unglaublich schön aus. Ja, schön. Nicht gut, oder sexy, oder heiß, wie man sich eben so ein Freudenmädchen vorstellt, sondern ganz einfach schön. Wahnsinnig schön.
Der Zauber verflog, als Olga sich wieder aufgerichtet hatte und trocken meinte: „Franjo, was ist? Pass auf, dass dir nicht die Maronen verbrennen.“
Butch kicherte auf, denn er sah, dass der alte Mann doch tatsächlich rot anlief wie eine Tomate. Olga aber lächelte. Franjo fing sich schnell wieder, sah Olga mit prüfendem Blick an und fragte dann:
„Schenkst du mir auch ein wenig Freude, schöne Olga?“
„Aber natürlich, Franjo, deswegen bin ich ja hier. Ich bin das Freudenmädchen.“
Sie hielt ihm die geöffnete Tüte hin. Butch fand das lustig, dass ein Maronenverkäufer eine heiße Marone geschenkt bekam. Doch das Grinsen verging ihm, als er sah, wie sich Onkel Franjos Gesichtsausdruck veränderte, als er Olga in die Augen sah und sich eine ihrer Maronen aus der Tüte fischte.
„Pass auf, Franjo, is heiss!“, sagte sie leise, und Franjo nickte. Es kam Butch so vor, als sei sein alter Freund regelrecht gedankenverloren, ganz und gar in Olgas Augen und ihrem Lächeln vertieft. Und genau wie bei ihm, küsste sie auch dem alten Mann sanft auf die Stirn und sprach: „Freude sei mit dir, lieber Franjo.“
Dieses Lächeln, dachte Butch, dieses wunderschöne Lächeln, so total liebevoll, Wahnsinn!
„Sag mal Franjo, “ sagte Olga nach einer Weile, „hast du heute nicht noch was ganz bestimmtes vorgehabt? Hm?“
„Huch!“, rief Franjo, „aber ja! Natürlich! Aber woher…“
„Ist jetzt nicht wichtig. Ist aber gut, dass ich hier vorbei kam, was?“
„Was für ein Zufall“, sagte Franjo und hielt den Kopf schief, sah die Frau an.
„Was wären Zufälle auch schon, wenn sie nicht zufällig, wie aus heiterem Himmel, erscheinen und geschehen“, sprach Olga und lächelte geheimnisvoll.
Franjo hatte sich wieder gefangen, beugte sich vor und zog eine Schaufel aus dem Sack. Er schüttelte den Kopf, man konnte ihm ansehen, dass etwas in ihm vorging, dass es in seinem Hirn arbeitete.
„Komm, Butch, hol die Maronen aus der Schüssel und verteile sie in die Tüten. Möglich, dass wir heute noch Gäste kriegen“, sagte Olga.
Eine Bemerkung, die Franjo zu einem weiteren Kopfschütteln veranlasste. Er behielt seine Worte aber für sich, die ihm auf den Lippen lagen.
„Was habt ihr vor, Olga?“, wollte Butch wissen, eine gewisse Spannung hatte ihn erfasst. Hier passierte etwas, dem er nicht folgen konnte. So sagte er frei heraus:
„Für ein Freudenmädchen bist du aber doch schon zu alt, oder? Du bist doch gar kein Mädchen mehr, sondern schon eine erwachsene Frau.“
„Glaub mir, Junge, du willst nicht wirklich wissen, wie alt ich bin.“
„Ich glaub, ich will das inzwischen auch nicht mehr wissen“, bemerkte Franjo kryptisch.
„Menno, ihr seid doof, is doch nur, weil ich finde, dass Olga super schön aussieht. Wie ein Engel.“
„Danke, mein Schatz, “ lächelte Olga, „das ist wirklich sehr lieb von dir. Und weißt du was? Dass ich ein Freudenmädchen bin, das muss aber unter uns dreien bleiben, okay? Denn Freudenmädchen arbeiten im Verborgenen, man muss gut haushalten mit dem Freudeschenken.“
„Ja, klar, großes Ehrenwort, das versteh ich gut“, versprach der Junge.
Als kurz darauf alle heißen Maronen in die Tüten verpackt waren, öffnete Franjo die Ofentür und schippte die Holzkohle in die große Metallschüssel. Dann wies er das Kind an:
„Greif in den Sack, Butje, und reich mir bitte das Feuerholz an.“
„Machen wir etwa ein Lagerfeuer?“ rief der Junge begeistert, „Hier? Mitten auf dem Platz? Das ist ja geil!“
Schnell war das trockene Holz über der rotglimmenden Holzhohle aufgeschichtet und Franjo sagte:
„Und nun beugen wir uns vor und pusten vorsichtig.“
„Ich muss blasen? Na gut“, kicherte Olga.
Diesmal grinste Franjo allerdings, als er erneut den Kopf schüttelte, Butch sah es ganz genau. Olga zog ihre Haare zurück und zu dritt beugten sie sich vor und bliesen vorsichtig in die Glut. Es dauerte nicht lange, da loderten die ersten Flammen auf.
„Es werde Licht“, flüsterte Franjo und sah Olga in die Augen. Sie nickte und flüsterte zurück:
„Ja, das habe ich schon mal gehört. Vor langer Zeit.“
„Vor sehr langer Zeit, glaube ich eher“, setzte Franjo nach und Olga ergänzte:
„Vor unendlich langer Zeit.“
„Hey, ihr beiden“, maulte Butch, „was redet ihr denn da? Guckt mal hier, wir haben ein Licht entzündet. Ein Licht in der dunklen Nacht.“
„Ja, Butch, das haben wir“, nickte Olga, „genau das war Franjos Plan, und deshalb bin ich auch hierhergekommen. Weil ich dabei sein wollte.“
„Du bist genau richtig erschienen, Olga“, grinste Franjo, und nun lachte auch Butch und meinte vielsagend:
„Was für eine große Freude!“
„Ein Waisenkind, ein Maronenverkäufer und ein Freudenmädchen“, lachte Olga. Doch der Junge erstarrte. Woher wusste Olga, dass er ein Waisenkind war? Sie hatten doch noch gar nicht darüber gesprochen. Doch Franjo riss ihn aus seinen Gedanken, auch er hatte sich das gerade gefragt.
„Olga scheint mir schon ein ganz besonderes Freudenmädchen zu sein. Doch nun lasst uns schweigen und die Stille genießen und das Feuer.“
Ich fühl mich irgendwie wie Maria und Josef und das Jesuskind, dachte Butch, behielt aber seine Gedanken auch lieber für sich.
Sie standen eine Weile schweigend, blickten in das Feuer und immer auch wieder hoch zum sternenklaren Himmel. Olga wies zu einem besonders hell leuchtenden Stern, streichelte Butch mit ihrem weichen Lederhandschuh über den Kopf und sagte leise:
„Wann immer du diesen Stern siehst, erinnere dich an diese Nacht, mein Junge und spüre die Freude in dir.“
„Olga, bleibst du denn nicht bei uns?“
„Diese Nacht schon, oh ja, aber dann muss ich fort, woanders Freude schenken gehen.“
„Ja“, nickte Butch traurig, „das habe ich mir fast schon gedacht. Ich bin aber so froh, dass du heute Nacht bei uns bist, Freudenmädchen.“
„Seht, da kommen Leute“, sagte Franjo mit belegter Stimme und räusperte sich. Tatsächlich, einige Haustüren der Wohnhäuser waren geöffnet und die Anwohner kamen heraus und langsam auf sie zu. Alle trugen sie etwas in den Händen. Sie kamen zum Licht.
„Dürfen wir uns wohl zu euch gesellen, an das Licht in der Heiligen Nacht?“, fragte ein älterer Herr und hielt eine Thermoskanne hoch. „Ich bin Werner, und das hier, das ist heißer Punsch. Ganz normaler Punsch, kein Weihnachtspunsch.“ Er lächelte.
„Und ich bin die Gaby, und das hier sind ganz normale Plätzchen, kein Weihnachtsgebäck, ne. Hab zufällig vorhin Lust bekommen, ein wenig was zu backen. Mach ich schon mal gern zu dieser Jahreszeit. Wisst ihr?“
Sie lachte. Immer mehr Menschen kamen herbei und stellten sich vor.
„Ihr alle müsst unbedingt von Olgas Maronen probieren, Leute“, rief Butch, einem plötzlichen Einfall folgend, „die sind super lecker, ganz frisch von Onkel Franjo gemacht.“
Olga lächelte wieder ihr wunderschönes Lächeln, hielt ihnen die Maronentüten entgegen und jedem einzelnen sah sie in die Augen und wünschte ihnen, dass Freude mit ihnen sei. Küssen tat sie sie aber nicht. Das taten dann die Leute untereinander, die plötzlich wie verzaubert wirkten, wie erlöst oder befreit. Olga ist wirklich voll der Hit, dachte Butch bewundernd. Die hats echt drauf!
Blicke versanken im Feuer, jeder der Anwesenden hing seinen eigenen Gedanken nach, und es muss gen Mitternacht gewesen sein, als Olga anfing, leise eine Melodie zu summen.
Hm.. hm… hm… hmmmmm
Hm… hm…hm… hmmmmm
Jeder der ums Feuer Stehenden kannte sie. Diese Melodie. Butch natürlich auch und er war der erste, der mit einstimmte. Er summte mit. Keiner blickte auf, alle schauten sie weiter ins Feuer, ließen sich berühren und fingen an zu summen. Die Melodie. Diese eine Melodie. Bis es ein summender Chor wurde, der immer lauter wurde, der anschwoll, während sie alle weiterhin ins Feuer blickten, und schließlich war es der alte Franjo, der mit klarer und dunkler Stimme ansetzte:
„Sti… hi… lle… Naaaacht
Hei… li… ge… Naaacht
Alles schlääääft
Einsam waaaacht
Nuuuur das traute hochheilige Paaaaar...."
Dass ihm dabei ein Schauer noch nie gekannten Ausmaßes über die Kopfhaut, Nacken, Schultern und Rücken lief, ihm die Tränen in die Augen stiegen, bekam keiner mit, außer… Olga, das Freudenmädchen und ihr Lächeln und das Funkeln ihrer Augen übertrugen sich auf alle, die mit dabei waren, in jener Nacht, als Weihnachten ausfiel, und irgendwie auch doch wieder nicht.
© Walhorn, Dezember 2014